Schriftenreihe des Fördervereins Barock-Solisten: Im Gespräch mit Yehudi Menuhin

[Zur Titelseite]
[Zum Inhaltsverzeichnis]
MARCELLUS MENKE IM GESPRÄCH
MIT LORD YEHUDI MENUHIN

Im Rahmen der Arbeit für das vom Förderverein unterstützte Forschungsprojekt: INTERPRETATIONSTRADITIONEN DER BACHSCHEN SONATEN UND PARTITEN FÜR VIOLINE SOLO, konnte der Musiker und Philosoph Marcellus Menke am 10. Juli 1998 mit Lord Yehudi Menuhin in Frankfurt ein Gespräch führen.

Marcellus Menke: Lord Menuhin, wenn man Ihrer Biographie durchschaut, dann sind Sie ein Geiger, der sehr eng mit der Musik Johann Sebastian Bachs in Verbindung zu stehen scheint.

Yehudi Menuhin: Das ist wahr, schon mit sechs oder sieben Jahren, habe ich zu erstenmal das E-Dur Konzert gespielt. Und ich übte das im Zimmer nebst der Küche, wo meine Mutter arbeitete und habe den zweiten Satz, den ich sehr liebte, dreimal hintereinander gespielt. Und ich dachte es war wirklich nicht zu schlecht. Es war ausdrucksvoll. Oben am Wand, da hing ein Photo von meiner Großmutter, der Mutter meiner Mutter der  ich niemals begegnet bin. Aber sie war sozusagen der Engel, der im Haus residierte.Und die hat gewinkt, vom Photo. Sie war zufrieden. Das ist schon mit sechs oder sieben Jahren. Aber immer wieder habe ich Bach gespielt. Mit meinen großen Lehrern, mit Enescu natürlich und mit Adolf Busch. Und dann immer wieder durchgedacht. Ich habe mindestens drei verschiedene Auffassungen von der C-Dur Sonate als Fuge. Mit verschiedenen Längen des chromatischen Gegenthemas. Einmal habe ich sogar, so weit es ging das Gegenthema mit vollen halben Noten gespielt, aber am besten ist es mit punktierten Vierteln, Vierteln mit mindesten einem Sechzehntel dazu. Wenn der Ton über dem nächsten Viertel noch klingen kann, dann hört man die Auflösung der Intervalle. Kürzer als ein Viertel und ein Sechzehntel das ist nicht gut, das muß mindestens so lang sein. So das ist nur um zu sagen wie lang ich mich mit Bach beschöftigt habe; mein Leben lang, das müssen jetzt ungefähr fünfundsiebzig Jahre sein.

Marcellus Menke: Welche Bedeutung hat die Musik Bachs für Sie?

Yehudi Menuhin: Für mich war die Bedeutung dieser Musik immer so hoch, es stand für alles. Das heißt, es stand für tiefe leidenschaftliche Gefühle, daß heißt die Präludio g-moll, a-moll, sogar dieses wichtige C-Dur. Das sind unglaublich tief empfundenen, sehr leidenschaftliche Musik, die natürlich Bach improvisierte. Wie er bestimmt am Cembalo oder am Orgel improvisierte. Aber die Stücke haben doch eine Struktur, wie bei Bach immer. Und dann die großen Fugen, die waren, königliche Herrscher, von des Menschen Geist, Gemüt und Seelen. Für mich war das eine große Musik. Und jetzt als ich vor paar Wochen zwei Brandenburg Konzerten in Straßburg dirigierte, hatte ich wieder das Gefühl, und stärker als je, daß dieses eine geistliche Volksmusik ist. Eine Art religiöses Volksmusik.

Marcellus Menke: Sie sprechen von der Musik Johann Sebastian Bachs so präsentesch. Dabei handelt es sich um eine Musik die mehr als zwei Jahrhunderte alt ist. Wie nah kann man als Musiker an das was der Komponist damals im Kopf gehabt hat herankommen. Wir haben ja heute nur das beschriebene Notenblatt.

Yehudi Menuhin: Aber wissen Sie, es ist wie ein Schauspieler, der sagt, ja da sind ein paar Wörter auf dem Papier geschrieben. Was bedeuten die Wörter, woher kommen sie, was sind die Überzeugungen, Gefühle, Sehnsucht, was bedeuten diese Wörter damit ich sie jetzt dem Publikum übertragen kann. Und das selbe mit dieser Musik. Ich finde es eine edle, noble Musik, die für mich geeignet war, für mein Seele, meine Gefühle und meine Gedanken. Es war so intellektuell wie leidenschaftlich, es war ein Ausdruck meiner eigenen Seele, und hat wahrscheinlich auf mich einen großen Einfluß gehabt.

Marcellus Menke: Welchen Unterschied sehen Sie zwischen den sozialen Gegebenheitn zur Zeit Bachs und heute? Wie  muß man sich die Menschen vorstellen, für die Bach seine Musik geschrieben hat?

Yehudi Menuhin: Damals war es selbstverständlich, daß man gläubig war und daß man Reverenz fühlte für das was wir nicht verstehen können, für das was nach und vor dem Leben ist, überhaupt, für die Frage wofür wir da sind. Das sind Gedanken, die dem Menschen immer wieder kommen, und darum ist der Mensch das meist entwickelte Tier, und er ist religiös, weil er sich Fragen stellt, die er nicht beantworten kann. Die Religionen versuchen diese Fragen zu beantworten. Entweder schuf Gott die Welt in sechs Tagen, oder es war ein Vulkan. Es war Feuer, oder die Sonne beherrschte die Welt, meistens eine wunderbare Art einer phantasierenden Mythologie, die sehr viele Elemente Wahrheit hat. Das heißt sie hat die Wahrheit unserer Intuition, aber, die Vorstellungen sind natürlich nicht im realistischen Sinne wahr. Sie bleiben aber immer wahr im Sinne das wir in dieser Kunst und Mythologie und in allem was wir schaffen eine Art Ausdruck von der Sehnsucht legen, die wir empfinden das zu wissen, das zu verstehen was wir nie verstehen können. Aber damals zur Bach Zeit kamen alle in die Kirche, meistens sehr gläubig, und das ist dieses Volksmusik die Bach für diese Mengenmenschen komponiert hat.

Marcellus Menke: Wie erleben Sie als Interpret die Musik Bachs?

Yehudi Menuhin: Jedesmal wenn  ich die Chaconne spielte, am Ende wenn ich es gut gespielt hatte, und das war meistens, am Ende also, besonders wenn ich die ganz Partita gespielt habe, da hatte ich im Rücken einen "Frison", wie man sagt, besonders die Stelle, ganz am Ende, die Moll-Stelle, wo es über drei Seiten geht. Und Enescu hat auch diesen -ich glaube ich danke ihm und meiner Umgebung-, als die Moll zurückkommt im Chaconne, am Ende nach der D-dur Passage, was glänzend und festive ist, kommt zurück und er sage, hast du je die, ich war ungefähr, 13, 14 Jahre alt, hast du je die Skulpturen von Riemenschneider gesehen. Nein damals hatte ich es nicht gesehen, dann mußt du die weinende Madonna sehen, das ist es was es bedeutet.

Marcellus Menke: Wie sehen sie die Komponistenpersönlichkeit Bach?

Yehudi Menuhin: Er war eine Art Einstein seiner Zeit. Mit einem Kopf, daß sich unsere Computer schämen würden. Aber gleichzeitig er war ein normaler Mensch, das ist das interessante bei Bach.

Marcellus Menke: Und wie läßt sich Bach im Verhältnis zu den romantischen Komponisten einordnen?

Yehudi Menuhin: Die romatnischen Komponisten hatten eine Lebenspein, die waren in dem Sinne, wie soll ich sagen, nicht ideal normal, weil ein normaler Mensch ist ausgeglichen, und er kennt die Extreme aber beleibt in der Mitte, das er nicht übertreibt. Aber die Übertreibung unserer Gefühle war ein Merkmal des romantischen, das heißt: "ich fühle so", "ich leide so", "ich bin so verleibt", "hören sie wie ich fühle", "sie müssen verstehen was ich fühle". Aber Bach sagt nicht was ich fühle, was Jesus gefühlt hat, und alle konnten ihr Leid durch den Herrn erfüllen. Das heißt es war nicht egoistisch. Es war nicht ein egoistisches Leiden. Es war ein Leiden aber man sagte sich es ist Teil des Lebens, der Herr hat noch mehr gelitten. Für eine lange Zeit hat man Bach nicht gespielt. Erst Mendelssohn hat Bach zurückgebracht. Weil die Romantiker wollten von sich selbst sprechen, die wollten nicht von Gott sprechen, das ist der Unterschied. Aber Bach war ein normaler Mensch, er hatte Kinder, eine Frau und er lebte sehr ordentlich. Jeden Sonntag mußte er eine Kantate vorbereiten, komponieren. Dabei war er ein Mann der bestimmt viel Humor hatte. Das sieht man in verschiedenen weltlichen Kantaten. Und er hatte Eleganz, etwa in seinen Gavotten, seine stilisierte Tänze, haben doch unglaublich viel süße und Eleganz. Dieses Brandenburgische Konzert Nr. 4, das mit den Flöten, es ist doch herrlich, so schön und der zweiten Satz ist so rührend, es ist wirklich, wie ich sagte, ein Volksmusik. Wenn die Menschen es verstehen würden, würden sie sehen das es am universellsten von allen ist, und das es dabei noch Gesund ist. Ich meine gesund im Sinn das romantische doch etwas krank ist.

Marcellus Menke: Sie sind ein Künstler der sich nie in den Elfenbeinturm des Künstlers zurückgezogen hat. Für Sie ist es immer der Mensch, der im Mittelpunkt steht. Nach dem Krieg sind sie sofort nach Deutschland, gekommen und haben hier gespielt. Es gibt von Adorno diesen viel zitierten Satz, daß nach Ausschwitz keine Gedichte mehr geschrieben werden könnten. Also keine Kunst mehr nach dem Holocaust. Sie haben genau das Gegenteil gemacht. Sie haben den Menschen ihre Musik gebracht, unter anderem eben auch die Sonaten Bachs.

Yehudi Menuhin: Es ist so, das Leiden ist ein Teil des Schaffenden, glaube ich. Das schöne mit Bach ist, das er nicht so viel gelitten hat. Obwohl am Ende ist er dann blind geworden. Sein Leben ist kein so leidendes Leben, und doch muß Bach das Leiden in seinem Leben kennengelernt haben. Sonst hätte er die Mathäus-Passion und die anderen nicht schreiben können. Er kannte das Leiden. Aber er kannte es nicht so, wie ich es zum Beispiel kenne. Nicht das ich in Ausschwitz gewesen bin oder das ich heutzutage in Afrika krank und sterbend vor Hunger bin, oder an einer schweren Krankheit leide, oder nach Sibirien geschickt wurde, weil ich die falschen politischen Gedanken hatte, diese elenden schrecklichen Erfahrungen unseres Millenium wenn sie so wollen, seit den Kreuzzüge hab ich nicht erlebt, Gott sei dank für mich selbst, aber ich habe genug Mitleid, genug Verständnis, und habe auch persönlich andere Sachen. Man kann nicht leben ohne Leiden.

Marcellus Menke: Lord Menuhin, sie sind ein Geiger der sehr viel Erfahrung mit Schallplattenaufnahmen hat. Ihre ersten Einspeilungen haben Sie auf Schellackplatte gemacht. Jetzt nehemen Sie in den modernsten Digitalstudios auf. Wie beeinflußt die Technik der Aufnahme den Geiger? Wie wichtig sind Aufnahmen für den Musiker?

Yehudi Menuhin: Es ist eine gute Übung das Aufnehmen finde ich, eine fabelhafte Erfahrung, man hört es gleich, es ist wie die Erfindung des Spiegels, für die Frau, es ging vielleicht zu weit, so daß die Frau angefangen hat alles künstliche zu mit Farben und alles mögliche, und das ist etwas auch so mit dem Digitalen, man geht vielleicht zu weit, im oberflächlichen, ich finde das digitale immer noch ..., obwohl es alles klar und wunderbar ist, aber mir fehlt es an Wärme. Und ich würde gerne sehen, daß alles was digital aufgenommen ist, und es ist wichtig das es so sei, auch analog aufgenommen wird, weil, obwohl es jetzt sehr schnell ist, das heißt die haben weiß ich, achttausend Aufnahmen pro, Sekunde oder ich weiß nicht wie viel, und das ist besser als früher wo es, es war noch zu spüren, diese Vibration. Und das ist eine Vibration die gegen die Musik ist, es sind ... Und wenn man es langsam dreht, dann hört man die Musik, wie zerstückelt. Jetzt natürlich ist es so schnell, daß es, das Ohr nimmt es auf wie natürlich damals die Photographien im Kino, es waren auch Einzelphotographien und dazwischen war Pause, aber die Pause hat man nicht bemerkt, das war so schnell, aber ich weiß nicht ob es eine Reaktion in unserem Körper hat, sogar die sehr schnelle Vibration, die wir nicht spüren oder hören können. Ich weiß daß am Anfang, vor 15 Jahren oder mehr, sagte mir ein Psychologe, der Platten benutzte um seine Patienten Musik zu behandeln hat der gesagt, daß die digitalen Aufnahme nicht brauchbar waren für die Patienten. Da ist interessant. Ich möchte wissen, wie es heute ist, die Erfahrung eines Psychologen oder eines Psychiaters, ob es das selbe ist oder nicht.

Marcellus Menke: Wie war das bei der Schellackplatte?

Yehudi Menuhin: Die Qualität war nicht so klar, daß man alles sehen konnte. Nicht wahr, zum Beispiel: Frauen lieben besser bei Kerzenlicht. Man will nicht ein helles Licht, das alles aufleuchtet wie bei einer chirurgischen Operation, wo man alles sieht und keine Schatten möchte. Aber wenn man mit lebendige Wesen zu tun hat, und sie interpretieren möchte, dann muß man Licht und Schatten haben. Ich finde oft diesen Aufnahmen fehlt die Nuancierung. Man sieht zu viel und fühlt zu wenig. Ich weiß nicht. Es mag sein, daß ich Vorurteile habe.

Marcellus Menke: Lord Menuhin, wie würden Sie jemanden, der sich noch nicht sicher ist, ob er in ein Konzert mit den bachschen Solosonaten gehen soll davon überzeugen, daß dieses Musik das richtige für ihn ist?

Yehudi Menuhin: Sehen Sie ich habe sehr sehr oft die Bach Solosonaten gespielt. In allen möglichen Kirchen, auch in Sälen, in Wien in New York und überall und immer war es ein wunderbares Gefühl, besonders muß ich sagen in den großen Kirchen. Es ist unglaublich die Geige allein. Eine Geige allein klingt phantastisch, und die Menschen kommen nachher und sind wirklich sehr sehr tief gerührt. Ich hatte immer dies Gefühl. Immer. Und ich sehe junge Menschen, die kommen zum erstenmal in ein Konzert, und haben es nie geahnt. Die glaubten daß die Musik die sie jeden Tag hören und zu der sie energisch tanzen, oder nicht tanzen, das das die ganze Musik ist, und auf einmal hören sie diese andere Musik an, und sie entdecken sich selbst. Das sie das in sich hatten. Das sie die Reaktion empfinden können, heißt das sie kennen, oder möchten diese Gefühle erfüllt haben. Und sie, wie sagt man, entdecken sich selbst. Und bereichern sich so.

 
 [Zur Titelseite] [Zum Inhaltsverzeichnis]
© 1998 by Gelsenkirchener Barock-Solisten e. V.