
So ganz ohne Vorläufer und Vorbild, wie einige Biographen Johann Sebastian Bachs gerne annehmen, sind die sechs 1720 in Köthen entstandenen Sonaten und Partiten für Violine Solo zwar nicht, aber sie sind gleich in mehrfacher Hinsicht ungewöhnliche Werke, denen man zu Recht eine Sonderstellung in der Musikgeschichte zuspricht.
Die Jahre Bachs in Köthen passen nicht so recht in das verbreitete Bach-Bild, das in Bach lediglich den großartigen Kirchenmusiker, den virtuosen Organisten und genialen Schöpfer sakraler Musik sehen will. Bachs Dienstherr in Köthen war Calvinist. Gewiß, auch dort gab es in der Kirche Musik. Doch alles was über den schlichten Gesang hinausging war verpönt. Für 5 1/2 Jahre seines Lebens hatte Bach mit Kirchenmusik nichts zu tun. Und so wirft Rudolf Steglich Bach vor, in den Köthener Jahren seiner eigentlichen Berufung untreu geworden zu sein. Doch die Autoren, die wie Steglich oder Terry meinen, daß es letztendlich nicht so ganz zu erklären sei, was Bach eigentlich bewogen habe, den Ruf an den Hof in Köthen anzunehmen, vergessen einen entscheidenden Punkt. Bei der Wahl seiner Stellen hatte Bach immer die Möglichkeiten im Auge, die sich ihm als Komponist boten. Und die Aufgabe in Köthen war nicht nur unter diesem Gesichtspunkt ein Glücksfall für Bach.
Auf den bisherigen Stationen seines beruflich-künstlerischen Werdegangs war Bach mehrfach mit Vorgesetzten aneinander geraten. Eine Reihe dieser Auseinandersetzungen sind uns recht genau bekannt. Etwa die Streitigkeiten in Arnstadt, wo Bach von 1703-1707 tätig war. Seine künstlerischen Fähigkeiten wurden mitnichten anerkannt und außerdem versuchte man ihn auch für Aufgaben heranzuziehen, die im Arbeitsvertrag gar nicht vorgesehen waren. Dazu kam das zuweilen etwas heftige Temperament des jungen Bach, das nicht gerade zur Entschärfung der Situation beitrug.

In Köthen, in einer seinem musikalischen Genie wohlgesinnter Umgebung, hatte Bach die Aufgabe, Musik für das Orchester seines Dienstherren zu schreiben. Dazu gehörte auch Kammermusik. Die Liste der von Bach in dieser Zeit geschriebenen Werke ist sehr umfangreich. In dieser Zeit entstanden unter anderem die Violinkonzerte in a-Moll und E-Dur, sowie das Doppelkonzert für zwei Violinen d-Moll und die später nach ihrem Widmungsträger als "Brandenburgische Konzerte" bezeichneten Werke. Ob die sechs Sonaten und Partiten zur Aufführung am Hofe bestimmt waren läßt sich nicht abklären.
Daß Bach von Haus aus Geiger war wurde bereits erwähnt. Diese Tradition und das Wissen um die musikalischen wie technischen Möglichkeiten der Violine spiegelt sich in den 6 Solosonaten wie in keinem anderen Werk der Violinliteratur wieder. Bach kennt die deutsche Geigenschule, deren Vertreter Johann Schop, Johann Vierdanck, Ignaz Franz Biber, Johann Jakob Walter und Paul von Westhoff er zum Teil persönlich gekannt haben dürfte. Gerade Westhoff kann als eine Inspirationsquelle für Bach angesehen werden, denn Westhoff brachte das mehrstimmig Spiel auf der Geige zu einer bisher nicht gekannten Perfektion. Um die Übersichtlichkeit zu erhöhen, hatte er extra ein aus zwei übereinander geschriebenen Liniensystemen bestehendes Notationssystem entwickelt.

Innerhalb des Bachschen Gesamtwerkes nehmen die 6 Sonaten und Partiten für Violine Solo eine wichtige Stellung ein. Das wird besonders durch die von Bach selber vorgenommenen Bearbeitungen deutlich. Es existiert eine Übertragung der a-Moll Sonate auf das Cembalo. Die E-Dur Partita gibt es in einer Fassung für Harfe. Die Fuge aus der g-Moll Sonate hat Bach sowohl für Orgel als auch für Laute umgearbeitet. Ein Teil der C-Dur Sonate findet sich in einem Werk für Cembalo wieder. Das Präludium der E-Dur Partita hat Bach gleich zweimal benutzt. Es dient ihm als Vorlage für die Einleitungssinfonien der Kantate "Herr Gott Beherrscher aller Dinge" und der Ratswahlkantate "Wir danken dir, Gott".
Die Quellenlage ist für die sechs Sonaten und Partiten gut. Die Sonaten und Partiten BWV 1001 bis 1006 sind in der Bachschen Reinschrift erhalten. Sie wird heute in Berlin (Deutsche Staatsbibliothek) aufbewahrt. Das Autograph trägt die Überschrift:
Die im Autograph vorgegebene Anordnung ist offensichtlich Bestandteil des kompositorischen Konzeptes. Die Stücke sind so angeordnet, daß Sonaten und Partiten jeweils miteinander abwechseln. Auf eine viersätzige, im Stil der "Sonata da chiesa" gehaltenen Sonate folgt eine Partita, die sich stilistisch an der "Sonata da camera" orientiert. Die bewußt als künstlerisches Ausdrucksmittel eingesetzte Anordnung spielt mit der Spannung, die in der Verschiedenheit von Kammer- und Kirchensonate liegt.
Bei den Sonaten läßt sich das einleitende Adagio und die Fuge als ein Satz betrachten, wenn man auf das Vorbild der französischen Ouvertüre zurückgreift. Hierzu berechtigen die Halbschlüsse des Eröffnungsteils. In dieser Sichtweise läßt sich in den Sonaten der dreisätzige Grundriß des italienischen Konzertes erkennen. Dabei setzt sich der liedhafte Mittelteil stets durch eine andere Tonart von den übrigen Sätzen ab: in der g-Moll Sonate ist es B-Dur, in der a-Moll Sonate C-Dur und in der C-Dur Sonate F-Dur. Demgegenüber gibt es in den Partiten keinen Tonartwechsel. Hier hat die Tonart die Funktion, das Gefühl der Einheit herzustellen. Bei aller charakterlichen Unterschiedlichkeit durchzieht bei jeder der drei Partiten die einheitliche Tonart die geschickt aneinander gereihten Tanzsätze wie ein roter Faden. Besonders in den Fugen kann sich der Hörer des Eindrucks nicht erwehren, daß Bach sich durch die Einschränkungen, die ihm die mit den vier Seiten der Violine gegebenen technischen Möglichkeiten des Instrumentes auferlegt, geradezu herausgefordert sieht. Hier vollbringt der Komponist Bach das Höchste, was an Vielstimmigkeit auf der Geige überhaupt möglich ist. Die Kompositionen zeugen von einer intimen Kenntnis der Möglichkeiten der Violine.